Im Rahmen des zweiten Semesters haben sich die Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Deutsch mit dieser Frage auseinandergesetzt. Entstanden sind Aufsätze, die einen interessanten Diskurs abbilden.
Eine Auswahl finden Sie nachstehend.
Der Leistungskurs Deutsch
Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?
Lilly Schalter
Ich sitze vor dem Fernseher und bin fassungslos. Vor mir sehe ich Bilder, in denen Anhänger des Präsidenten das amerikanische Kapitol stürmen – ein Parlament, das Heimat einer der ältesten Demokratien der modernen Welt ist. Ich frage mich, wie in einer Welt voller Wissen, voller Bibliotheken, voller grauenhafter Geschichte solche Szenen möglich sind.
Kann das das Zeitalter sein, von dem Lessing, Goethe oder Kant träumten, als sie von zukünftigen aufgeklärten Gesellschaften sprachen?
Auch Kant wäre wohl entsetzt, wenn er die Bilder in Washington verfolgen müsste. Schon vor 400 Jahren nutzt der Aufklärer das Horaz-Zitat “Besitze den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”, und hoffte auf mehr Vernunftbegabung. Die Wunschvorstellung der Aufklärer war eine aufgeklärte Gesellschaft mit einem aufgeklärten Herrscher an der Spitze.
Und wo stehen wir heute?
Man könnte annehmen, dass unsere Gesellschaft nicht nur aufgeklärter denn je ist, sondern auch die Idealvorstellung von Aufklärern widerspiegelt. Die Ausgangslage ist gut, denn noch nie war der Bildungsstand weltweit so hoch wie heute. Begründen lässt sich dies durch die Entwicklungen und Verbesserungen der Bildungssysteme. Was die Geburt eines Bauernsohnes zu Kants Lebenszeit für sein weiteres Leben und Bildung bedeutete, trifft heute kaum noch zu. Wissen zu erlangen und sich selbst aufzuklären, ist nicht mehr unbedingt von dem Stand der Familie abhängig. Dazu kommt das Internet, das Unmengen an Wissen kostenlos, schnell und über den ganzen Erdball für jeden, der es möchte, bereithält. Durch riesige, digitale Enzyklopädien wie Wikipedia ist es möglich, Wissen zu erlangen, ohne dafür Teil einer gehobeneren Schicht zu sein.
Mit diesem allgemeinen Wissens- und Bildungsstand hinterfragen Menschen der heutigen Gesellschaft Traditionen und Regeln und suchen neue Antworten auf alte Fragen. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts konnten von den Errungenschaften der modernen Gesellschaft nicht einmal träumen: Trennung von Kirche und Staat, Emanzipation der Frau, Menschen auf dem Mond. Als Gesellschaft haben wir uns noch nie so sehr an der Wissenschaft und dessen Erkenntnissen orientiert.
Auch wenn die Wissenschaft und Bildung des Einzelnen einen größeren Stellenwert genießen, so scheinen noch viele Menschen mit den gleichen Problemen zu kämpfen, die auch schon von Kant beschrieben wurden. Wie die Menschen vor knapp vier Jahrhunderten sind auch heute noch die meisten Menschen zu träge, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Mitläufer zu sein ist heutzutage einfacher, als alles und jeden zu hinterfragen. Sie folgen blind politischen Führungspersönlichkeiten und deren Entscheidungen, setzen die Scheuklappen auf und blenden Probleme aus. Wenn ich eine ärztliche Diagnose erhalte, so werde ich sie wohl kaum während eines stundenlangen Spazierganges und in Diskussion mit mir selber hinterfragen. Auch wenn mir Autoritätspersonen, wie ein Lehrer, eine Aufgabe gibt, so löse ich diese zwar, aber meist ohne dabei zu ergründen, warum dies nun für mein späteres Leben relevant ist. In diesem Aspekt trifft unsere Gesellschaft nicht die Erwartungen der Aufklärer.
Immer mehr Menschen, die zwar geltende Regeln und Traditionen hinterfragen, dabei aber auf einen falschen Pfad gelangen und zu moralisch und wissenschaftlich fragwürdigen Erkenntnissen kommen, drängen sich in die Mitte der Diskussion. Diese falschen Erkenntnisse können mit Hilfe des Internets schneller denn je verbreitet werden und von denen, die zu träge sind, zu hinterfragen, als Wahrheiten hingenommen werden. Zwar ist die Veröffentlichung von Einsichten ganz im Sinne der Aufklärung, doch strebte sie nach der Wahrheitsfindung und nicht der Verbreitung von Fehlinformationen. Durch das Internet sind beispielsweise in den letzen Monaten immer wieder Unwahrheiten über das Corona-Virus in Umlauf geraten, die sich in regelrechten Gegenbewegungen gefestigt haben.
Auch wenn wir uns wohl wünschen würden, die eine Gesellschaft zu sein, die den Traumvorstellungen der Aufklärer entspricht, so bin ich der Meinung, dass wir noch lange nicht all die Vernunft, die uns zur Verfügung steht, einsetzen. Kant wäre wahrscheinlich enttäuscht darüber, wie wir als Gesellschaft all dieses Potential, das wir haben, nicht nutzen und sogar leichtsinnig verspielen.
Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?
Hjördis Heide
„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, schrieb der Aufklärer Immanuel Kant in seinem Text Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Daraus ergibt sich die Fragestellung: Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?
Dafür spricht, dass die Menschenrechte heute eine Chancengleichheit ermöglichen, die vor zweihundert Jahren undenkbar schien; der Adel hat heute nur noch eine repräsentative Funktion und auch Aspekte, wie das Frauenwahlrecht und die Schulpflicht in den fortschrittlichen Ländern zeigen, dass heute die Freiheit vorhanden ist, von der Kant in seinem Text schrieb.
Und Freiheit in diesem Sinne bedeutet, dass man machen und sagen kann, was man möchte, solange man andere Personen in ihrer Freiheit nicht einschränkt. Deshalb können Corona—Leugner und Verschwörungstheoretiker sagen, dass es das Corona—Virus nicht gibt oder, dass die Erde eine Scheibe ist. Dazu passt auch das Zitat von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist auch immer die Freiheit der Andersdenkenden.“
An dieser Stelle würde ich gerne noch einmal auf die Schulpflicht eingehen, die herbeiführt, dass die meisten Menschen in Europa gebildet sind und dadurch den Drang und auch die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen und neugierig zu sein; eben über den Tellerrand zu blicken. Vor dreihundert Jahren hätte man einen Gott, der die Menschen bestrafen möchte, für die Corona—Pandemie verantwortlich gemacht, heute forschen Wissenschaftler nach Ursachen und wie man die Ansteckungen vermindern kann, sie sind sogar in der Lage, einen Impfstoff herzustellen.
Damit ist belegbar, dass die Wissenschaft die Religion zumindest in den logischen Teilen verdrängt hat und man nun für alles eine wissenschaftliche Erklärung hat und eben nicht mehr zahlreichen Göttern die Verantwortung für unerklärliche Ereignisse gibt.
Gegen die Behauptung, dass wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, spricht der Fakt, dass Toleranz und Emanzipation — je nachdem, wo man hinguckt — eher mangelhaft vorhanden sind. In Ländern, wie Polen und Russland wird Homosexualität noch immer als Krankheit angesehen, was eine vernünftige und aufgeklärte Gesellschaft definitiv nicht tut.
Es gibt jedes Jahr Anschläge von religiösen Fanatikern, die Menschen umbringen, weil diese einer anderen Religion angehören.
Im Sommer 2020 sind weltweit Millionen Menschen auf die Straßen gegangen, um für die Rechte von Farbigen zu demonstrieren und darauf aufmerksam zu machen, dass — obwohl Amerika sich für eine moderne Gesellschaft hält — hunderte farbige Menschen jedes Jahr aufgrund ihrer Hautfarbe von Weißen ermordet werden.
Und wenn im einundzwanzigsten Jahrhundert Menschen aufgrund ihrer Religion oder Hautfarbe diskriminiert oder sogar umgebracht werden, können wir dann wirklich von einem aufgeklärten Zeitalter sprechen?
Ein weiteres Argument, das gegen die Behauptung, wir lebten in einer aufgeklärten Gesellschaft, spricht, ist, dass das deutsche Grundgesetz nicht vollkommen sachlich und ohne religiösen Einfluss geschrieben ist, obwohl es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen säkularen Staat handelt. Der erste Satz der Präambel im Grundgesetzes lautet: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […], hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Aber spricht dieses Grundgesetz denn heute noch von der gesamten deutschen Bevölkerung, wenn ein Großteil eben jenes Volkes Atheisten und Nichtgläubige sind?
Oder ein anderes Beispiel: Wenn der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin vereidigt wird, lautet der letzte Satz des Eides „So wahr mir Gott helfe.“ Allerdings sollte Deutschland soweit aufgeklärt sein, dass diese Sätze aus der Vereidigung oder des Grundgesetzes herausgenommen werden können, da das Staatsgeschehen nicht von einem Gott beeinflusst wird.
Fasst man alle Argumente zusammen, so lässt sich sagen, dass die Wissenschaft sich gegenüber den humanistischen Werten deutlich besser und vor allem weiterentwickelt hat.
Es ist aber auch wichtig, zu sagen, auf welche Gesellschaft — die sich aus der Summe ihrer Mitglieder zusammensetzt — man guckt, denn dann lässt es sich durchaus sagen, dass Deutschland aufgeklärter ist als die Vereinigten Staaten.
Allerdings ist Aufklärung kein Zustand, sondern ein Prozess, weshalb man nie komplett aufgeklärt sein wird, da sich alles immer noch entwickelt und auch immer weiterentwickeln wird, man kann aber sagen, dass wir aufgeklärter sind als vor zweihundert Jahren.
Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?
Felix Kindlein
Aufklärung verlangt schon ziemlich viel von uns.
Aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit sollen wir herausfinden. Dazu müssen wir uns unseres Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen, sagt Kant. [1]
Sein Aufsatz ist gut 200 Jahre alt – und noch heute aktuell. Die Frage, ob wir Aufklärung gegenwärtig umsetzen (können), ist höchst diskussionswürdig.
Es sei nach Kant leichter, von Vormündern verkündete Meinungen einfach zu übernehmen. Genau das ist aber mit dem Geist der Aufklärung unvereinbar. Wir müssen selbst denken und dazu informiert sein.
Gerade durch die Digitalisierung haben wir die Möglichkeit, kostenlos und jederzeit über unsere unheimlich schnelllebige Welt informiert zu sein. Das ebnet den Weg hin zu vielen aufgeklärten Individuen.
Der Zugang zu einer Vielzahl von Medien ist (zumindest in gefestigten Demokratien, diese nehmen wir hier an) durch Pressefreiheit garantiert. Fast jede erdenkliche Meinung ist öffentlich zugänglich.
Kant sagt, zur Aufklärung sei die Freiheit notwendig, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“[2]. Genau diese Notwendigkeit ist heute durch demokratische Strukturen garantiert und weiter noch begünstigt durch die einfache Verfügbarkeit von (Minder-)Meinungen.
Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk sorgt darüber hinaus für das Fortbestehen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft „mit einer funktionierenden Debattenkultur“[3]. Jeder Haushalt muss ihn mitfinanzieren. Jeder hat die Möglichkeit, sich – möglichst neutral und sachlich richtig – zu informieren, um ein aufgeklärter Bürger zu sein.
Dieses Vorgehen zeigt Wirkung; im vergangenen Jahr fanden allein in Berlin mehr als 5.000 Demonstrationen statt. [4] Was, wenn nicht die öffentliche Kundgabe der eigenen Meinung und der Kampf um die eigenen Überzeugungen, ließe sich treffend als aufklärerischer Akt bezeichnen?
Ein weiterer Aspekt, der für ein aufgeklärtes Zeitalter spricht, sind die vielen Ressourcen, die in Bildung gesteckt werden.
Vera Birkenbihl beschreibt, wer sein Wissen erweitere, vergrößere auch automatisch seinen assoziativen Reichtum, der diesem Wissen entspringen könne. [5]
Mit anderen Worten: Wer über ein breit gefächertes Wissen verfügt, kann dieses verknüpfen. Der Verstand kann besser arbeiten. Jeder junge Mensch besucht eine Schule und erhält das essentielle Wissen mit auf den Weg, das er braucht, um einen Zugang zu gesellschaftlichen Themen zu entwickeln. Dieser Schulbesuch ist hierzulande überdies kostenlos. Massen an öffentlichen Geldern fließen in Schulen, deren Ausstattung und pädagogisches Personal. Allein für die Digitalisierung stellte der Bund Mittel in Höhe von 5 Milliarden Euro bereit. [6]
Zwingen kann man den Einzelnen freilich nicht, von seinem Verstand auch Gebrauch zu machen. Bildung und Information zu gewährleisten, ist indes der beste Weg in Richtung Aufklärung.
Um die Frage nach dem aufgeklärten Zeitalter zu beantworten, muss auch betrachtet werden, was Verstand überhaupt meint, wodurch er geprägt ist und wo er uns hinführen soll.
Dass er schlichtweg vorhanden und objektiv sei, ist eine grob falsche Annahme. Harari beschreibt in seinem Bestseller Homo Deus, dass ein Großteil unserer Überzeugungen von „Geschichten“ geprägt sei. Auch der Humanismus sei eine solche.[7] Menschenrechte, Gerichte und ähnliches sind par excellence keine objektive Realität. Es sind schlichtweg Geschichten, an die wir – gemeinsam und in großer Zahl – glauben.
Eine objektive Wirklichkeit, zu der uns Aufklärung führte, kann es mithin gar nicht geben.
Wir können selbstverständlich über alles nachdenken und unseren Verstand dazu befragen. Wir werden aber immer an „Geschichten“ glauben; sie sind das Glas der Brille, durch die wir alles gefiltert wahrnehmen. Während die Vernichtung von 6 Millionen Juden nach humanistischen Grundsätzen absolut entsetzlich ist, ist sie nach den Ideologien (Geschichten) der Nationalsozialisten durchaus sinnvoll. [8]
Diese stetige Weiterentwicklung zeigt exemplarisch auch die Rechtsprechung in Deutschland zum Schwangerschaftsabbruch. Im Februar 1975 schrieb das Bundesverfassungsgericht in einem Leitsatz, dass die Schutzpflicht des Staates ihm u.a. gebiete, sich schützend und fördernd vor das ungeborene Leben zu stellen. Weiter führte es aus: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich […] Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht […] in Frage gestellt werden.“ [9] Das ergebe sich unter anderem aus der Würde des Menschen.
Dasselbe Prinzip – die Würde des Menschen – spricht der Schwangeren aktuell das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch zu. Mittlerweile ist es straffrei, „wenn Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche […] vornehmen.“ [10] Dasselbe Prinzip – zuvörderst die Menschenwürde – liegt beiden Entscheidungen zugrunde. Die Auffassung hat sich schlechthin mit der Zeit verändert.
Auch sei daran erinnert, wie unheimlich aufwendig wirkliche Aufklärung ist.
Jede einzelne Meinung muss durch den Verstand begründet werden. Das ist bereits zeitlich so gut wie nicht machbar. Zu bedenken ist außerdem, dass die häufige Änderung unserer Meinung (das bringt Aufklärung natürlicherweise mit sich) uns widerstrebt.
Birkenbihl beschreibt „Die Weigerung, […] [eine neue] Information, Meinung zu akzeptieren, ist im Grunde genommen eine Weigerung, […] Energien auszugeben [… ][und] […] die Investition (Energie des alten Bildes) zu verlieren.“ [11] Jede Meinung, die wir verinnerlicht haben, festige sich umso mehr, desto intensiver wir an sie glaubten und auf ihr aufbauend neue Meinungen entwickelten. Unsere Grundüberzeugungen in Frage zu stellen oder gar zu verwerfen, widerstrebt uns ganz natürlich. Anzuerkennen, dass 66 und 44 entgegen der voreilig geäußerten Meinung nicht 100 ergäbe, ist nicht schwer. Die politische Orientierung um 180 Grad umzukrempeln freilich schon. Letzteres kommt in der Realität entsprechen selten vor.
Zu guter Letzt sei herausgestellt, dass Aufklärung ein stets fortwährender Prozess ist. Wir werden niemals alles (objektiv) durch eigenen Verstand begründen können „und einen Haken an die Aufklärung machen“. Wir tun allerdings gut daran, offene, interessierte und kritische Menschen zu sein. Den Geist der Aufklärung sollten wir leben, über die notwendigen Voraussetzungen verfügen wir. Seien wir uns bewusst, dass wir in Geschichten denken und kennen wir diese. Gestalten wir unsere Welt. Ich wünsche mir von Herzen, dass uns das immer gelingt. Wir wären auf jeden Fall ein großes Stück mündiger.